Diese Plastiktüte wirkt irgendwie deplatziert. Rosalind schleppt das raschelnde Ding mit in den herrschaftlichen Speisesaal des Hotels und stellt es so ungeschickt neben den Stuhl, dass die Kellnerin mehrfach fast darüber stolpert. In der Tüte steckt ein Teil ihrer eigenen Geschichte: Briefe, Papiere, Fotos. Wahrscheinlich werde das Material einmal Verwertung im Film ihrer Tochter finden, vermutet Rosalind, der Julies gespanntes Interesse nicht entgeht.
Julie, die Filmemacherin mit Upper-Class-Hintergrund, hat die gemeinsame Reise in das winterliche Landhotel in Wales aus nicht ganz uneigennützigen Motiven initiiert. Ihr nächstes Projekt soll ein Film über ihre Mutter (und sie) werden. Sie hat ihr Studienobjekt so nicht nur ständig vor sich; mit dem Gebäude, das früher im Besitz von Rosalinds Familie war, sind überdies Kindheitserinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs verbunden, die sich, so Julies Erwartung, in der vertrauten Umgebung wieder hervorholen lassen. Der abgeschiedene Ort könnte sich aber auch gut zum Schreiben eignen.
Doch schon bei der spätabendlichen Ankunft zeigt sich, dass das ambitionierte Vorhaben sich nicht so leicht umsetzen lässt. Das reservierte Zimmer ist nicht frei, das Restaurant bereits geschlossen und die Rezeptionistin so stur wie phlegmatisch. Merkwürdigerweise scheinen Mutter und Tochter aber die einzigen Gäste zu sein.
Bedauern und das Gefühl von Versäumnis
Julie Hart ist das Alter Ego der Regisseurin Joanna Hogg. Als Filmfigur begegnete sie bereits in der zweiteiligen Autofiktion „The Souvenir“ (2019) und „The Souvenir: Part II“ (2021), filmischen Erinnerung an Hoggs Studienzeit Anfang der 1980er-Jahre in London.
In „The Eternal Daughter“ ist aus der nach einem künstlerischen Ausdruck suchenden jungen Frau eine ziemlich pedantische, angespannte Person geworden, die mit leichtem Bedauern und dem Gefühl von Versäumnis auf ihre Mutter (zurück)blickt. Verschoben hat sich auch das Verhältnis zwischen beiden. Julie ist nun in der fürsorglichen, um das Wohlergehen von Rosalind bemühten Rolle. Von Perfektionismus besessen, versucht sie alles zu unternehmen, um die noch nicht allzu lange verwitwete Frau glücklich zu sehen. Gleichzeitig hat sie nur wenig Skrupel, das Aufnahmegerät unbemerkt mitlaufen zu lassen, wenn Rosalind in ihren Erinnerungen umherschweift.
Während die Mutter die Tage meist im Bett verbringt, versucht Julie, von innerer Unruhe getrieben, sich am Schreibtisch in ihre Arbeit zu vertiefen – allerdings erfolglos. Nachts streift sie von unheimlichen Geräuschen aufgeschreckt mit dem Hund durch den Park oder liegt mit gespitzten Ohren stocksteif im Bett.
Mit „The Eternal Daughter“ taucht Joanna Hogg in die reiche Tradition der britischen Geistergeschichte ein. Das verlassene Hotel ist ihr „Manderley“. Dicke Nebelschwaden umgeben das Haus bei Tag wie bei Nacht. Es klappert und knarzt, und der Wind heult unheilvoll um das dicke Gemäuer. Auch wird Julies Blick immer wieder magnetisch an ein Fenster im Erdgeschoss gezogen, an dem einmal schemenhaft eine Frau erscheint.
Bis ins Kleinste erforscht
Das Geisterhafte, so formelhaft und unoriginell es im Film auch zum Einsatz kommt, zeigt sich in „The Eternal Daughter“ eher als eine gleichbleibende, stets leise mitschwingende Präsenz denn als übersinnliche Macht, die sich in Form geheimnisvoller Ereignisse immer mehr steigert und in ihrer Wesenheit gelüftet werden will. Hogg nutzt die visuelle (und akustische) Sprache des Genres, die von den leicht aufgerauten 16-mm-Bildern des Kameramanns Ed Rutherford und der Musik von Béla Bartok maßgeblich mitgetragen werden, als Rahmen, um die Tochter-Mutter-Beziehung bis in ihre kleinsten habituellen Handlungen zu erforschen: die Blicke, Gesten und kleinen Rituale, die der Klassenzugehörigkeit geschuldete Etikette, die echte Nähe verhindert, Julies Abhängigkeit von der Stimmung der Mutter für ihr eigenes Wohlbefinden, die fast schon übereifrige vorauseilende Fürsorge und die Enttäuschungen angesichts von Verstimmungen.
Das vielleicht mächtigste Gefühl aber ist die Trauer über die Unteilbarkeit von Erfahrungen – die Mutter, verpanzert in ihr Schweigen, wird für die Tochter immer eine „Mystery Person“ bleiben. Die Besetzung von Julie als auch von Rosalind mit Tilda Swinton (die in „The Souvenir“ schon als Mutter zu sehen war) setzt auch ein Spiel mit der Doppelgängerfigur in Gang. Die Mutter wird zur Projektion der kinderlosen „ewigen“ Tochter, eine Erinnerungsfigur ohne leibliche Existenz, ein Gespenst.
Begegnung mit eigenen Schuldgefühlen
So ist „The Eternal Daughter“ – wie auch schon das „The Souvernir“-Diptychon – mehr als alles andere ein Versuch über Erinnerung und Trauerarbeit und darüber, wie sich beides filmisch verarbeiten lässt. Den Inhalt der Plastiktüte hat Joanna Hogg wohl nicht gewagt anzurühren. Überhaupt haftet an Hoggs Annäherung etwas merkwürdig Gebremstes und gleichzeitig Hermetisches. Einen Film über die eigene Mutter zu machen, bedeutet eben nicht nur den Weg ins Geisterland, sondern auch eine Begegnung mit den eigenen Schuldgefühlen.